26) Ein heißer Tag auf der Abbey Road

Zach setzte sich in den Sessel im Hinterzimmer. Er legte die Füße auf das Tischchen, stellte das Laptop auf die Oberschenkel, öffnete es und schaltete es ein. Während Veronica die bösen Geister zu vertreiben versuchte, indem sie sie ins Licht zerrte, wählte der Detektiv eine andere Methode: Er folgte dem Ruf der Pflicht. Seine Liste der zu erledigenden Dinge war ins Riesenhafte gewachsen, seit er in Liverpool angekommen war. Der Zeitdruck fühlte sich brutal an. Nicht zuletzt verdankte er das Mr Kites Auftrag. Zunächst war es ihm wie eine gute Idee erschienen, dem Familienoberhaupt einen Gefallen zu tun. Er zeigte seine Hilfsbereitschaft, hatte endlich einen guten Grund, persönlich Kontakt mit den anderen Mitgliedern aufzunehmen, und verdiente nebenbei eine Stange Geld. Nun jedoch musste er acht Personen in ebenso vielen Tagen befragen, und er konnte sich schon ausrechnen, dass es dabei kaum bleiben würde. Am besten begab er sich sofort an die Arbeit. Zuvor wollte er einen Punkt von seiner Liste streichen, den er meinte, schnell erledigen zu können: den Halter des weißen Käfers zu ermitteln, der vor dem Eingang des Wallace-Schlosses gestanden hatte. Er wählte die britische Halterdatenbank an. Er tippte LMW 281F ein, dann schickte er die Anfrage ab. Keine Registrierung vorhanden. „Nanu?“, dachte er, „Habe ich mich vertippt?“ Er ging im Geist nochmals die Szenen durch, als er das Gebäude betreten beziehungsweise verlassen hatte. Er hatte keine Notizen gemacht, erinnerte sich jedoch deutlich an Veronica, wie sie Buchstaben und Zahlen vorlas. Sollte er sie fragen? Er entschied sich dagegen; er saß gerade so bequem.

Einer Intuition folgend gab er das Kennzeichen in eine Web-Suchmaschine ein. Zach hatte mit wenig mehr als unsinnigen Ergebnissen gerechnet. Um so überraschter war er über die Zahl der Treffer, die sofort einen Beatles-Bezug herstellten. Den mitgelieferten Bildern nach zu urteilen hatte er voll ins Schwarze getroffen: Das erste zeigte das Heck eines VW Käfers, der am Straßenrand parkte, fast genau so wie in seiner Erinnerung an die Szene vor dem Schloss. Ein weiteres Bild zeigte den selben Käfer im Kontext: auf dem Cover eines Albums, das er seit seiner Jugend kannte – Abbey Road. Er schmunzelte. „Natürlich!“, dachte er. Wie konnte es anders sein? Der Käfer wurde im Englischen bug oder beetle genannt. Weder im Herkunftsland Deutschland noch im Königreich war das die offizielle Typenbezeichnung, aber die Anwesenheit eines solchen Gefährts auf einem Beatles-Foto erhob das Objekt fast von selbst in den Status eines gesuchten Sammlerobjekts.

Nun musste er nur noch herausbekommen, wer den Wagen zuletzt erworben hatte, um an den Namen von Kites geheimnisvollem Besucher zu erfahren. Zunächst fand er einen Zeitungsbericht aus dem Jahr 1986. Ein gewisser Peter Gent hatte den Käfer auf dem Hof eines Gebrauchtwagenhändlers gesehen und für 450 Pfund gekauft. 1999 ersteigerte das Automuseum Wolfsburg ihn für 34.160 Deutsche Mark und stellte ihn im ZeitHaus auf. Der Zeitwert lag bei lediglich 1.500 Mark, doch für einen Wagen, der John Lennon gehört haben soll, wie man in Wolfsburg glaubte, war die Volkswagen AG bereit, bis zu 50.000 Mark hinzublättern. Später gab das Museum bekannt, dass der Käfer nicht Lennon sondern einem Anwohner der Abbey Road gehört habe. Das VW-1500-Modell sei 1967 gebaut und 1968 erstmals zugelassen worden. In den 70ern habe ein Beatles-Fan es erworben, behauptete das deutschsprachige Käferblog. Wie es aus dessen Besitz in die Hände eines nichtsahnenden Billig-Gebrauchtwagenhändlers geriet, wollte Zach nicht einleuchten. Es war ihm auch gleichgültig, denn ihn interessierte der gegenwärtige Eigentümer. Jenseits von Wolfsburg verzeichnete das Web keine weiteren Besitzerwechsel. Das Nummernschild soll mehrfach gestohlen worden sein; dann verschwand das Auto aus dem Schauraum des Automuseums. Es sei ‚zur Zeit in einer Nebenhalle geparkt und für Besucher nicht zu sehen‘, diktierte man der FAZ 2009 in die Feder. Besucher der Autostadt berichteten noch 2022, dass es nicht ausgestellt sei.

Der Detektiv fand das ungewöhnlich. Da erwarb man ein Objekt der Popkultur für das Zweiundzwanzigfache des Zeitwerts und stellte es dann mehr als ein Jahrzehnt lang ins Lager? Wie kam die Kiste vor Kites Tür? Handelte es sich um eine Replik oder den Wagen aus Wolfsburg – geklaut oder gekauft? Oder war das Museum einem Betrug aufgesessen und hatte ihn deshalb aus dem Schauraum entfernt? Zach sah ein, dass die Frage der Provenienz, also wer den Wagen wann besessen hatte, keineswegs so unbedeutend war, wie er in seiner Ungeduld geglaubt hatte. Für eine entsprechende Recherche von Fahrzeugpapieren und Kaufverträgen, soweit diese überhaupt zugänglich waren, hatte er keine Zeit. Kites Besucher mochte unwichtig sein. Er stellte lediglich fest, dass er schon wieder mit einer löchrigen Story zu tun hatte, für die es alternative Erzählungen gab. Und das konnte gut und gern daran liegen, dass Abbey Road, genau wie Sgt. Peppers, mit Hinweisen auf Pauls Tod gespickt worden war – beginnend mit dem Nummernschild. Dass LMW für ‚Linda McCartney weint‘ stehen sollte, wie manche behaupteten, fand Zach unlogisch. Paul McCartney war zum Zeitpunkt des Wechsels – so er denn stattgefunden hat – mit Jane Asher verlobt. Lindas Eintritt in die Beatles-Historie erfolgte erst ein halbes Jahr später. 281F, das wegen der Schrifttype des Schilds wie 28 IF aussah, nannte angeblich das Alter Pauls, IF – wenn – er nicht verstorben wäre. Der Schönheitsfehler hieran, musste Zach feststellen, als er das Erscheinungsdatum des Abbey Road-Albums prüfte, bestand in der Tatsache, dass McCartney im September 1969 erst 27 gewesen wäre. Falls der Wagen absichtlich in den Bildausschnitt gerückt wurde, musste eine andere Erklärung für das Schild her. Überzeugender schien Zach die Überquerung des Zebrastreifens als symbolische Passage über den Fluss Styx ins Totenreich; das Trauergeleit bestand aus dem Priester, John, dem Bestatter, Ringo, dem Toten, Paul, und dem Totengräber, George.

Nur Paul rauchte einen Sargnagel, nur Paul setzte den rechten Fuß vor, nur Paul ging barfuß. All das mochte auf den ersten Blick wie vernachlässigbare, wahrscheinlich zufällige Details erscheinen, aber es zog sich wie ein roter Faden durch die Bandgeschichte, dass Paul McCartney seit 1965 auf Bildern fast immer eine Sonderstellung einnahm und dass er von Todessymbolik umgeben war. Die Häufigkeit und Regelmäßigkeit, in der dies geschah, verbot Zufälle. Man musste außerdem berücksichtigen, dass Bildaufnahmen die öffentliche Meinung über die Abgebildeten prägen sollten, und dass Albencover Aushängeschilder waren, überlegte Zach. Trotzdem hatte der Detektiv, wie die meisten Menschen, die Szene auf Abbey Road bisher als einen aus dem Leben gegriffenen Schnappschuss gehalten. Das Bild war natürlich alles andere als das. Die Beatles mussten die Straße mehrfach überqueren, bis die Optik passte. Es war ein heißer Tag im August. Drei der vier Musiker trugen Anzüge und Halbschuhe, waren also für einen festlichen oder formellen Anlass korrekt aber zu warm bekleidet – nur George, der Totengräber in seinen Jeansklamotten, nicht. Und was tat Paul überhaupt derart seltsam bekleidet – barfuß im Anzug – auf einem Fototermin? Bewusst betrachtet, mit einem gesunden Sinn fürs Praktische, erschien Zach dieses Bild mit jeder Minute bizarrer.

Komplett verrückt und unglaubwürdig wurde ihm die Sache, als er in seinen weiteren Recherchen dem Hinweis auf eine Fernsehaufzeichnung folgte, in der Sir Paul die Fotoszene erläuterte. McCartney behauptete, er sei am Tag, als das Bild aufgenommen wurde, in Sandalen, genauer gesagt, in Flip-Flops erschienen. Es sei so heiß gewesen, dass er sie ausgezogen habe. „Etwas Dämlicheres kann man unter solchen Bedingungen kaum tun“, polterte Zach. Ohne Schuhwerk brannten McCartney sicherlich die Sohlen vom erhitzten Asphalt, und das mehr als ein Mal, denn die Beatles hatten die Szene mehrfach durchspielen müssen. Dass er die Flip-Flops – oder welches Schuhwerk auch immer – am Straßenrand zurückgelassen hatte, war somit definitiv kein spontaner Akt gewesen. Warum log der Musiker in dieser nebensächlichen Angelegenheit? Die Antwort erhielt der Detektiv zwischen den Zeilen der TV-Show. Auf sein Gesicht legte sich zuerst ein ungläubiger Ausdruck. Als er den Austausch zur Gänze angesehen hatte murmelte er anerkennend:. „Du gerissener Schlawiner!“

Inzwischen war keine Rede mehr davon, seine Aufgabenliste abzuarbeiten. Er rief den Anfang des Gesprächs erneut auf und schaute es noch einmal an, um sich jedes Wort auf der Zunge zergehen zu lassen. Verdammt, war der Mann clever. Dann schaute er es nochmals an, diesmal, um Mimik und Gestik der beiden Personen in den Fokus zu nehmen. Er begann hysterisch zu lachen.


Er lachte noch immer, als seine Tochter die Treppe herabgestiegen kam. Er hing im Sessel, den Kopf zurückgeworfen, die rechte Hand auf der Brust, und wieherte, als habe er den besten Witz seines Lebens gehört.

„Was ist denn so lustig, Dad?“, fragte Veronica.

Zach rieb sich die Augen, schnappte nach Luft und versuchte, einen verständlichen Satz zu formulieren. „Haha, setzt dich. Das musst du unbedingt gesehen haben!“

„Was denn?“

Er zeigte aufs Sofa. „Setz dich.“

Veronica gehorchte. Zach ließ sich auf den Platz neben sie plumpsen und stellte den Laptop auf das Tischchen vor ihnen. Dann setzte er das Video auf den Anfang des Gesprächs zurück. „Bereit?“

„Spiel‘s endlich ab. Ich kann Aufmunterung gerade gut gebrauchen.“

Zach klickte auf den Play-Knopf. Dann lehnte er sich entspannt zurück. Veronica saß vorgebeugt daneben, die Unterarme auf die Knie gestützt.

David Letterman und ein deutlich gealterter Paul McCartney erschienen auf dem Bildschirm. Der Talkshow-Moderator sprach seinen Gast auf die End-Sechziger an, die Zeit, als Gerüchte über den Tod des Musikers aufgekommen seien, und wollte wissen, wie er sich dabei gefühlt habe.

Sir Paul sagte: „Wir sollten über den Zebrastreifen gehen. Ich bin an jenem Tag mit Sandalen aufgekreuzt; Flip-Flops. Und es war so heiß, dass ich sie ausgezogen habe und barfuß rübergegangen bin. Das hat dann zu dem Gerücht geführt, dass er tot war, weil er keine Schuhe anhatte. Ich habe den Zusammenhang nicht begriffen.“

„Scheint mir ein langsamer und schwerer Tod zu sein. Barfuß gehen kann töten“, kicherte Letterman.

„Verbrannte Füße…“ ergänzte Paul.

„Ha! Er gibt es selbst zu!“, triumphierte Zach.

„Pssst!“, zischte Veronica.

Letterman erkundigte sich bei McCartney, wie er damit umgegangen sei, denn Immerhin sei die Sache weltweit zum Gespräch geworden.

Er habe einfach darüber gelacht, antwortete Sir Paul. Es sei dennoch ein wenig seltsam gewesen, weil ihn die Leute forschend angesehen hätten, als ob sie sich fragten: „Ist er es wirklich oder nur ein sehr gutes Double?’”

“Das war die Idee dabei, der zweite Teil,“ spann Letterman den Faden weiter, „dass es da einen Kerl gab, der wie Sie aussah und Ihren Platz einnahm.”

Da zeigte Sir Paul energisch auf sich selbst und sagte: “Nun, das hier ist er.”

Die Antwort löste Gelächter beim Talkmaster und im Publikum aus. McCartney schaute sich nervös um.

“Oder er ist es nicht“, fügte Letterman nach einer Kunstpause grinsend hinzu, woraufhin Sir Paul den Finger an die Lippen legte.

Zach stoppte den Austausch, der weniger als zwei Minuten gedauert hatte, durch einen Tastendruck.

„Woah!“ stieß Veronica aus. Der Mund blieb ihr offen stehen. „Das hat er nicht wirklich gesagt, oder? Von wann stammt die Aufzeichnung?“

„Doch, hat er, und Millionen Menschen waren 2009 am Bildschirm dabei.“

„Aalglatt. Jedes Mal, wenn er den Verstorbenen erwähnt, wechselt er in die dritte Person und spricht von ‚ihm‘. Wenn man nichts Böses vermutet, klingt es, als dementiere er das Gerücht. Wenn man ihn dagegen beim Wort nimmt, bestätigt er es geradezu.“

„Hast du bemerkt, dass Letterman eingeweiht zu sein schien? Er spricht von der ‚Idee‘ von Pauls Tod und ihrem zweiten Teil, dem Doppelgänger, als sei der fliegende Wechsel in der Bandbesetzung die ganze Zeit der Plan gewesen.“

„Ja. Die beiden verstanden sich großartig. Mit dem Bekenntnis, dass er selbst der Doppelgänger sei, hat Billy dann vollends den Vogel abgeschossen. Alle fanden den Witz großartig, aber für einen Moment war ihm mulmig, dass er zu weit gegangen sein könnte.“

„Und so beendete er das Thema, als Letterman noch einen draufsetzen wollte“, schloss Zach.

Veronica nickte. „Das Handzeichen stammt aus der Freimaurerei. Natürlich benutzt es heute praktisch jeder, aber ich habe ein Gefühl, als redeten da zwei, die zum selben Club gehörten.“

„Zwei Meister, wenn du mich fragst“, sagte Zach.

„Komm, lass es uns noch einmal anschauen.“

„Mit Vergnügen!“

Er musste die Aufzeichnung weitere drei Mal zurücksetzen.

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