24) Maxwells Silberhammer

„Mr Ziegler,“ fuhr Kite fort, „vielleicht können Sie mir in Ihrer Eigenschaft als Detektiv behilflich sein.“

Zach schaute erstaunt auf.

„Natürlich habe ich Erkundigungen über Sie eingezogen. Wer kauft schon gern die Katze im Sack?“

„Leute, die Manuskripte in Koffern erwerben?“, flachste Veronica.

„Erkundigungen, soso“, sagte Zach. „Nun, es kommt darauf an, wie der Fall beschaffen ist. Worum geht es und was erwarten Sie von mir?“

„Es geht um ein verschwundenes Dokument.“

„Ich bin nicht sicher, dass wir schon jetzt bereit sind, Memorabilien aufzu…“

„Es handelt sich um eine Fotografie, die mir im Verlauf eines unserer Familientreffen entwendet wurde; vermutlich ein Scherz, der die Grenzen des Zulässigen überschritt und sich daher kaum von allein in Wohlgefallen auflösen wird. Der Kreis der primär Verdächtigen besteht somit aus den Personen, die ich zuvor aufgezählt habe. Ziehen Sie Erkundigungen ein und beschaffen Sie entweder das Foto oder einen dienlichen Hinweis.“

Zach ging die Liste im Geist durch. „Einschließlich Ihnen bestand die Familie bis zum Tod meines Stiefbruders aus zehn Personen, korrekt?“

„Richtig. Ihn und mich können wir ausschließen, also bleiben acht.“

„Wen wir ausschließen können, müssen Sie mir überlassen, andernfalls lehne ich den Auftrag ab. Ich brauche außerdem weitere Informationen: Von welchem Ort, welchem Datum, welchem Zeitfenster, welchem Fotomotiv reden wir? Worin bestanden die Sicherheitsvorkehrungen für das Objekt und wie wurden diese überwunden?“

Der Hüne schwieg einen Moment. Er zog eine Grimasse, kratzte sich mit einem perfekt manikürten Finger an der Nase, dann antwortete er: „Sie werden keine Ermittlungen gegen mich durchführen. PC31 scheidet aus, weil die Tat in genau jener Nacht geschah, als er gestorben ist. Ich hatte anlässlich des Sucherfolgs kurzfristig ein Treffen hier im Schloss anberaumt. Er sollte den Koffer mitbringen, aber er traf nie ein. Wir zeigten uns gegenseitig einige andere Stücke, die wir in der letzten Zeit erworben haben, darunter auch das Foto – ein Motiv aus der Pathologie, das normalerweise in einem Safe aufbewahrt wird; mehr möchte ich darüber nicht sagen. Aus der geplanten Feier entwickelte sich ein weintrunkenes Fest, das bis in die frühen Morgenstunden dauerte. Kurz nach ein Uhr begaben Kirk und ich uns nach oben. Als ich gegen zehn Uhr wieder erwachte, waren bis auf Kirk alle Gäste und das Foto verschwunden.“

„Kirk?“

„Die Duchess of Kirkcaldy.“

„Ach ja. Wenn ich die Lage recht einschätze, werden Sie vermutlich auch zu den Vorgängen da ‚oben‘ keine näheren Angabe machen wollen.“

„Wie genau müssen Sie es wissen?“

„Vergessen Sie‘s. Ich komme vielleicht darauf zurück, falls die Ermittlungen steckenbleiben. Was ist Ihnen meine Arbeit wert?“

„Berechnen Sie Ihren üblichen Satz. Falls es mit Ihrer Hilfe gelingt, das Foto zurückzuholen, verdoppelt das Ihr Gehalt.“

Zach und Veronica verständigten sich wortlos. Dann reichte der Detektiv Kite die Hand und sagte: „Einverstanden. Ich halte Sie wöchentlich auf dem Laufenden.“

„Täglich. Geben Sie dem höchste Priorität. Ich erwarte, dass die Frage in einer Woche vom Tisch ist.“

„Wie Sie wünschen.“

Der Schlossherr zeigte einen zufriedenen Gesichtsausdruck. Er hob sein letztes noch gefülltes Saftglas. „Auf Ihr Wohl.“

Veronica und Zach prosteten zurück. „Auf Ihres.“

Kite erhob sich. „Lassen Sie uns zur Feier des Tages Ihren Wunsch erfüllen. Folgen Sie mir.“

Er führte sie zurück durch den Salon mit dem fünfeckigen Tisch und den schwarzen Sesseln bis zur Tür neben dem gegenüberliegenden Kamin. Sie traten hindurch. Der Grundriss des Saals entsprach dem des Speisesalons, allerdings wurde dieser hier als Bibliothek genutzt. „Fühlen Sie sich wie zuhause“, sagte Kite. Seine linke Hand wies im Halbkreis in den Raum. „Ich bin in zwei Minuten wieder bei Ihnen.“ Er verließ sie durch eine weitere Nebentür am anderen Ende. Zach und Veronica ignorierten den Drang, das während des Essens Gehörte zu diskutieren oder auch nur die Backen zu blähen. Sie mussten davon ausgehen, dass hier, genau wie nebenan, irgendwelche Instrumente auf sie gerichtet waren. Die beiden musterten Boden, Wände und Decken in gespielt gelangweilter Haltung, gaben vor, einmal dieses Gemälde, einmal jenes Buch genauer zu inspizieren.

Ohne besondere Eile schlenderte Zach zu einem Stück hinüber, das an einer Holzvertäfelung zwischen zwei Bücherschränken befestigt war. Er hatte die Form wiedererkannt, ohne sie gleich zuordnen zu können. Das Ding sah aus wie eine mittelalterliche Streitaxt oder eine Art Hellebarde. Am oberen Ende eines armlangen Stiels war ein kreuzförmiges Werkzeug montiert. Eine Seite, kegelförmig, nahm den sich leicht verjüngenden Stiel auf, der linke Flügel bestand aus einem spitzen, handlangen Dorn; oben lief das Objekt in einer dolchartigen Spitze zu. Statt einer Axt formte der rechte Flügel einen Hammer mit gespreizten Ecken. Die Flügel des Kreuzes waren an einem Würfel befestigt, der, wie der Rest der Waffe, wahrscheinlich aus Silber oder versilbertem Metall bestand. Der Stiel war aus einem edlen Rotholz gefertigt – keine Kriegswaffe, sondern für zeremonielle oder symbolische Zwecke gefertigt. Sie sah gefährlich genug aus. Doch wer mochte wissen, welche Schäden man mit einem ernst gemeinten Äquivalent anrichten konnte?

Zachs Blick glitt an dem Ausstellungsstück hinunter. Rechts unterhalb, etwa auf Höhe seiner Schultern, befand sich eine gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografie. Sie zeigte ein Motiv, das er schon einmal gesehen hatte – in einem anderen Wartezimmer, nur wenige Tage zuvor. Nach all den verstörenden Informationen, die er seither aufgenommen hatte, kam es ihm wie ein halbes Leben entfernt vor. Ein formell gekleideter älterer Herr hielt eine auf ein Samtkissen gebettete historische Waffe, vielleicht eine Streitaxt oder einen Kriegshammer. Ihm gegenüber stand John Lennon mit hängenden Schultern, sichtlich übernächtigt. Bei näherer Betrachtung konnte es sich um dasselbe Objekt handeln, das über dem Bild hing. Es war sogar wahrscheinlich, andernfalls ergab die Kombination aus Foto und Ausstellungsstück keinen Sinn. Seine Überlegungen bestätigte die dezente Texttafel, die links, gegenüber dem Foto, unterhalb der Waffe angebracht war. Auf ihr stand:

“Sir Maxwell Knight übergibt John Lennon den McCartney- biétl. 9. November 1966”

Zachs Kinnlade fiel nach unten.

„Faszinierend, nicht wahr?“, ertönte hinter seiner linken Schulter die Hyänenstimme des Schlossherrn.

Der Detektiv zuckte zusammen. Er drehte sich um und trat einen Schritt zur Seite. Sein rechter Zeigefinger deutete auf den Hammer. „Was, zur Hölle, ist das da?“

Kite setzte ein sardonisches Lächeln auf. „Wie die Inschrift angibt, handelt es sich um einen biétl. Das Wort entstammt dem Altenglischen und bezeichnet einen Hammer; in diesem Fall ein rituelles Objekt, das für Beatles-Sammler mit okkultem Wissen um die Band so etwas wie den heiligen Gral darstellt. Ist Ihnen das Datum aufgefallen?“

„Neunter November – 9/11. Wollen Sie andeuten, die Waffe stünde im Zusammenhang mit McCartneys Ableben? Ich dachte, er sei bei einem Autounfall am 11.9.1966 gestorben?“

„So geht die Rede. Sie geben die offizielle Version der Beatles-Geschichte für diejenigen wieder, die Gründe haben, der für die breite Masse publizierten offiziellen Geschichte keinen Glauben zu schenken. Die Kombination aus elf und neun hat numerologisch eine ganz besondere Bedeutung. Wenn Sie die Weltgeschichte daraufhin abklopfen, werden Sie in ihrem Zusammenhang zahlreiche der wichtigsten Ereignisse stattfinden sehen: Am 9.11.1918 die Revolution gegen den deutschen Kaiser, die den Krieg zugunsten der Alliierten beendete, selbigen Tags 1989 die Öffnung der Berliner Mauer, die für den Fall der kommunistischen Regime in Osteuropa von besonderer Bedeutung war; am 11.9.1973 begann mit dem Putsch General Pinochets gegen den chilenischen Präsidenten Salvador Allende die Übernahme der Welt durch den Neoliberalismus. Dies nur, um ein paar der bekannteren Beispiele zu nennen.“

„Wie kommt ein dem gegenüber unbedeutender Musiker ins Spiel?“, fragte Veronica, die sich den beiden zugesellt hatte.

„Der beliebteste Musiker innerhalb der erfolgreichsten Musikgruppe der Welt“, verbesserte Kite, „und damit ein wesentliches Element in der Transformation familienbasierter Nationen zu den Ansammlungen hyper-individualistischer Atome, wie wir sie heute kennen. Die zersetzende Wirkung der Rockmusik, allen voran die der Beatles und der Stones, auf herkömmliche Moralvorstellungen wird selbst von ihren ärgsten Kritikern gern unterschätzt. Diese Bands propagierten die Lockerung der Sexualmoral, untergruben den Glauben an Gott und staatliche Institutionen, popularisierten den Missbrauch von Hasch und LSD, bagatellisierten Satanismus, pulverisierten jede klare Vorstellung davon, was Ethik, Philosophie oder Kunst zu leisten hatten, und sie beeinflussten ein Milliardenpublikum. Paul McCartney verdiente es, Luzifer an jenem besonderen September-Datum übergeben zu werden.“

„Also gab es keinen Unfall“, schloss Zach. „Er wurde ganz einfach erschlagen.“

„Formulieren wir es so: Wenn es um historische Daten geht, überlässt man nichts dem Zufall. Maxwells Silberhammer sorgte dafür, dass Paul wie vorgesehen starb.“

Veronica drehte den Kopf der Waffe zu und verzog angeekelt das Gesicht. „Ich glaub‘, ich kotz‘ gleich!“, nuschelte sie fast unhörbar.

„Max Knight übergab das gute Stück, desinfiziert und von allen Spuren gereinigt, zwei Monate später an John… als Andenken beziehungsweise als Warnung. Aber wer weiß: Vielleicht ist auch dies nur eine wohlfeile Geschichte, eine Fassade vor einer Fassade vor einer Fassade… Kommen Sie, ich zeige Ihnen, was Sie sehen wollten.“

Kite legte den dicken Lederordner, den er in der Hand gehalten hatte, zwei Regalabteile entfernt auf ein Lesepult. Er schlug ihn an einer mit einer Seidenschleife markierten Stelle auf, ungefähr nach einem Drittel der Seiten. „Nicht anfassen! Lesen Sie gern langsam, sorgfältig, aber Sie werden keine weitere Seite zu Gesicht bekommen. Faksimiles dieser Textstelle kann man an mehreren Adressen im Internet finden, wenn man weiß, wonach man sucht. Es sollte Beweis genug sein, dass wir das Original vor uns haben.“

Zach trat näher. Die Seite war einseitig eng mit Schreibmaschinenschrift bedeckt. Er schätzte den Text auf etwa fünfhundert Wörter. Das Papier war fleckig und vergilbt. Am breiten oberen Rand trug es von Hand aufgetragen die Inschrift ‚146 –‘. Mehr als ein Drittel der Zeilen umrahmte eine Linie. Das von ihr gebildete Feld war doppelt durchgestrichen. Weitere Ergänzungen und Streichungen in Handschrift verliehen der Seite den Entwurfscharakter, den man von einem Buchmanuskript erwartete.

Der Detektiv begann zu lesen: Ein gewisser George Kelly und seine Frau seien wegen etwas, das Evans ihnen im Auftrag von Brian – Epstein? – sagte, unglücklich und verließen Cavendish. Am folgenden Tag sei Paul eingetroffen; alle seien zugegen gewesen – es folgte eine Liste von Vornamen – und seien erstaunt und aufgeregt gewesen… ‚Sie haben in Nairobi ganze Arbeit geleistet‘, las er, ‚Nun ging es also wirklich los. Es fühlte sich an, als ob wir ihn schon immer gekannt hätten.‘ Darauf folgte das durchgestrichene Feld von circa zwanzig Zeilen, in dem von weiteren Reaktionen der Anwesenden berichtet wurde. Unter anderem ging es um Strawberry Fields Forever, das John ihm, später wohl, rückwärts vorgespielt hatte. ‚Welch eine Art, eine Geschichte zu erzählen‘, begeisterte Evans sich.

Dem durchgestrichenen Feld folgten zuletzt sieben Zeilen. Hier erwähnte er eine Klinik in Kenia, zu der er Paul begleitet habe, und dass dieser nun einen falschen Oberlippenbart brauche. Dann brach der Text mitten im Satz ab, um auf der folgenden Seite seine Fortsetzung zu finden. Ohne nachzudenken hob Zach die Hand, um umzublättern. Sanft drückte der Hüne seinen Arm nieder.

„Das sollte Motivation genug sein, den Fab Store wieder zu eröffnen, Mr Ziegler. Nehmen Sie mein Angebot an; eine Million Pfund, bar, steuerfrei.“ Kite schaute ihm eindringlich ins Gesicht. „Kommen Sie, Sie haben heute enorm viel Neues erfahren. Lassen Sie uns in ein oder zwei Wochen wieder treffen, wenn Sie alles verarbeitet haben. Dann wissen wir außerdem mehr, was aus dem verschwundenen Foto geworden ist.“ Er legte Zach eine Hand in den Rücken und führte ihn sanft zur Haupttür in der Mitte der langen Seite des Saals. Der Detektiv, erschüttert, leistete keinen Widerstand.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert