23) Das Lachen der Hyäne

Kite hob beschwichtigend die Hände. „Immer mit der Ruhe. Einer der Gründe, weshalb ich Sie zu mir gerufen habe, bestand darin, Sie über den Status der Auftragsabwicklung zu informieren. Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung. Ich befinde mich im Besitz des Evans-Manuskripts und werde selbstverständlich meinen Teil der Abmachung mit PC31 – Ihrem Verwandten Paulus Campbell – erfüllen.“

Wieder preschten sowohl Veronica als auch Zach gleichzeitig mit Fragen vor. „Was soll denn das für ein Name sein, PC31?“, mokierte sich die junge Frau, während ihr Vater zu wissen verlangte, wann und in welcher Form der Schlossherr die Million Pfund Sterling, die im Warenbuch verzeichnet war, zu vergüten gedachte.

„Die leichte Frage zuerst: Es mag charmanter klingende Namen geben. Da Mr Campbells Initialen wie auch seine ermittlerische Tätigkeit zu denen des Police Constable Nr. 31 aus Maxwell‘s Silver Hammer passten, blieb das Kürzel als Spitzname an ihm hängen; zu seiner Ehre, wie ich finde. Die Million Pfund sollen Sie selbstverständlich erhalten – in bar. Ich bin fast der Überzeugung, dass das Buch ein Vielfaches davon wert ist. Aber Abmachung bleibt Abmachung. Dazu gehörte übrigens, dass das Werk nicht in den Papieren des Ladens auftaucht. Leider hat PC diese Abmachung gebrochen, zum Glück hat er dabei keinen Schaden angerichtet, denn die Natur des Werks hat er dankenswerterweise zu beschreiben unterlassen. Ohne den Einbrecher hätten wir uns jedoch eine Geschichte ausdenken müssen, die den Verbleib des Dokuments erklärt.“

„Sie erwarten von mir, dass ich eine Million Pfund Schwarzgeld annehme? Deklarieren kann ich sie ja wohl kaum, wenn Sie sich weigern, die Empfangsbestätigung für das Objekt zu zeichnen. Ganz nebenbei verwickeln Sie mich in die Behinderung amtlicher Ermittlungen, denn die Polizei denkt noch immer, es sei gestohlen worden.“

„Ich erwarte von Ihnen nur eines: dass Sie meine Erläuterungen gegenüber Dritten als nicht gesagt behandeln. Mal Evans‘ Erinnerungen besäßen enorme Sprengkraft, falls sie je ans Licht der Öffentlichkeit gelangten. Es wäre besser, sie blieben für immer von der Bildfläche verschwunden – oder zumindest so lange, bis alle Beteiligten in den Himmel gefahren sind.“

„Oder in die Hölle“, konnte Veronica sich nicht verkneifen.

Kite lachte herzhaft. „Ihr scharfes Mundwerk gefällt mir, Veronica. Passen Sie auf, dass Sie es sich nicht eines Tages verbrennen. Ich kann nur noch einmal eindringlich davor warnen, mit der Geschichte hausieren zu gehen“, sagte er. Nach einer Sekunde: „Die Familie ist natürlich ausgenommen. Desmond gehört, nebenbei gesagt, auch dazu.“

„Desmond?“, fragte Zach, der unwillkürlich an Maria Borghese denken musste. Gestern hatte sie den Chef der Mordkommission Desmond genannt. ‚D. Wickers‘ stand auf dessen Brustplakette, erinnerte sich Zach.

„Desmond Jones alias Donald Wickens, langjähriger Leiter des Polizeidistrikts und derzeit außerdem Leiter der Abteilung für Tötungsdelikte“, bestätigte der Hüne die Gedankengänge des Detektivs. „Guter Mann.“

„Wer ist sonst noch Mitglied im Club?“, erkundigte sich Zach.

„Haben Sie Horse und Semolina schon kennengelernt?“ Zach nickte, Veronica legte den Kopf schief. Daher fuhr Kite fort: „Der Gentleman und die Putze mit dem Superhirn. Er sammelt audiophiles Material, sie ist ständig auf der Suche nach Büchern und Artikeln; auch gute Leute, aber leider moralisch nicht flexibel genug. Dann wäre da noch Dr Robert, Pauls Anwalt; ich denke, den müssten Sie ebenfalls kennen.“ Wieder nickte Zach. „Er sammelt seltenes Bildmaterial. Molly Jones; sie hat sich auf Gegenstände aus dem Besitz der Mädchen im Beatles-Umfeld spezialisiert. Rocky Raccoon sucht nach den Musikinstrumenten aller möglichen Gruppen, die man auf Videoaufnahmen sieht. Mr Mustard liebt Autogrammkarten, Tickets, handgeschriebene Textblätter und solcherlei; er hat die Suche nach dem Koffer mitfinanziert, denn es müsste jede Menge Material für ihn dabei gewesen sein. Informieren Sie ihn unbedingt über den Zugang. Fehlt noch jemand?“ Kite überlegte kurz. „Ah, natürlich! Die Duchess of Kirkcaldy. Sie fängt gerade erst zu sammeln an. Seltenes Vinyl, Kleidungsstücke. Sie hat noch kein klares Profil. Ich helfe ihr, wo ich kann.“

Während Kite sprach, trug die Dienerschaft bereits den Hauptgang auf, dessen kunstvolles Arrangement Zach im Geiste in sinntragende Bestandteile zu zerlegen versuchte. Er konnte gefüllte Teigtaschen identifizieren, ein Püree – vermutlich Kartoffeln, eventuell mit Möhren angereichert und mit Zwiebeln geschmälzt –, ein Soße – Sauce, verbesserte er sich –, die mit Preiselbeeren angemacht sein konnte, sowie diverse Salatblätter unterschiedlicher Herkunft. Gesegnet sei, was satt macht, dachte er bei sich und koordinierte widerwillig seine Mund- und Handbewegungen für die Nahrungsaufnahme im Hause kultivierter Gastgeber.

Nach Abschluss des Gangs entspannten sich alle in eine etwas bequemere Haltung und tranken von dem Rotwein, der ebenfalls aufgetischt worden war. Diesmal beendete Kite die Stille, indem er sich nach den Plänen der Zieglers erkundigte: „Sie werden den Laden doch weiterführen, nicht wahr?“, fragte er. „Es wäre eine Schande, ihn zu schließen. Aus meiner Sicht stellt er kulturell eine ebenso wichtige Einrichtung dar wie das Museum. Er trug schon einiges dazu bei, das Erbe der berühmtesten Söhne der Stadt zurückzuführen beziehungsweise vor Ort zu halten.“

Zach räusperte sich. „Wir erwägen diese Option ernsthaft, seit Mr Bishop und Signora Borghese uns ihrer tatkräftigen Mithilfe versichert haben. Der Nutzen unserer Aktivität für Liverpool entzieht sich dagegen meinem Verständnis. Was hat die Stadt davon, wenn wertvolle Kulturgüter in den Privatsammlungen einiger reicher Bürger verschwinden, wo außer den Eigentümern niemand sie genießen kann?“

„Mein lieber Mr Ziegler,“ entgegnete Kite jovial, „Sie betrachten die Angelegenheit durch die Linse des niederen Volkes. Auch die Oberschicht interessiert sich für Kultur; ich möchte sogar meinen: ungleich mehr, und ungleich mehr der Bedeutung der Objekte bewusst. Ihre Aktivität, wie sie es nennen, erzeugt Umsatz, der das örtliche Geschäft generell ankurbelt und über Steuerbeiträge die öffentlichen Einrichtungen finanziert. In einigen Jahrzehnten werden viele der Sammlungen an den Staat überführt werden, der sie zur Dokumentation der Landeshistorie benutzen wird. Kulturgüter durchlaufen die Schichten der Gesellschaft also in ähnlicher Weise wie die Segnungen der Trickle-Down-Economy.“

Veronica, die äußerlich ruhig wirkte, doch innerlich kochen musste, wie ihrem Vater keinesfalls entging, sagte kalt: „Wenn der Sicherheitsapparat eines Landes Akten für fünfzig, siebzig oder gar einhundertzwanzig Jahre wegsperrt, wie erst vor wenigen Jahren in Deutschland geschehen, dann ist die Verschlussdauer daran bemessen, wann die Dokumenteninhalte an Relevanz verlieren. Mit anderen Worten: Wenn niemand mehr einen nennenswerten Nutzen aus den erhobenen Fakten ziehen kann, wird den Historikern die Gist davon eingeschöpft; und beim Leser von Geschichtsbüchern kommt davon so gut wie gar nichts mehr an. Der Vergleich mit der Trickle-Down-Economy ist vielleicht gar nicht so schlecht. Ich würde sie nur anders nennen.“

„Ach ja? Sollte es tatsächlich eine bessere Bezeichnung dafür geben?“, neckte der Hüne.

„Oh ja! Ich würde sie Piss-On-You-Economy nennen. Oben kippt man den edlen Wein hinein, unten kommt nach angemessener Wartezeit ein Bruchteil davon wieder ans Tageslicht – gelb und stinkend, aber immerhin…“

Zach verschluckte sich fast an dem Wein, den er gerade genippt hatte. Ihr Gastgeber brach wieder in sein seltsam hohes Lachen aus. ‚Hyänenhaft‘ war das Wort, das Zach gesucht hatte. Hyänenhaft.

„Brillant!“, sagte Kite. „Lassen Sie mich Ihre Aussage in lediglich einer Nuance zurechtrücken. Während sie de facto korrekt beschreibt, was in der Regel geschieht, besteht die Absicht dahinter nicht darin, dem gemeinen Volk etwas vorzuenthalten, sondern Schaden von seiner Führung abzuwenden.“

Veronicas Vater bewunderte die rasiermesserscharfe Rhetorik, die seine Tochter heute zum Besten gab. Ob es sie Mut kostete, so in die Konfrontation zu gehen, wagte er zu verneinen. Sie war noch jung und idealistisch. Jemand wie dieser stinkend reiche Kite, der meinte, über dem Rest der Gesellschaft zu stehen, konnte auf junge Frauen nur entweder höchst erotisch oder aber ekelerregend wirken. Ließ sich der Hüne von ihrer Ablehnung beeindrucken? Zach zweifelte daran. Dennoch nahm er die Gelegenheit wahr, sich als der freundlichere Teil ihres Gespanns zu präsentieren. Womöglich konnte er so dem Mann weitere Informationen entlocken. „Wäre es uns vielleicht möglich, einen Blick auf Evans‘ Werk zu werfen? Nachdem wir die abenteuerliche Geschichte seines Verschwindens studiert haben, muss Ich zugeben, dass mich die Neugier treibt.“

„Tut mir leid,“ entgegnete Kite, „das geht nicht. Wie ich schon sagte, muss es verschwunden bleiben.“

„Für den Rest der Welt. Aber wir haben ja Kenntnis über den Verbleib des Objekts. Und sind wir denn kein Teil der Familie? Ich fände es ungeheuer motivierend für unsere Arbeit, das Buch einmal in Händen zu halten.“

Kite überlegte. „Mir kommt da eine Idee…“

Wieder betraten vier Diener den Raum, diesmal um die Nachspeise zu servieren. Zach gruselte es vor Mousse-au-chocolat, die er zunächst glaubte identifiziert zu haben, doch dann stellte sich die braune Masse als Schokoladenpudding deutscher Machart heraus. Die Diener übergossen sie mit im eigenen Saft erhitzten Erdbeeren und stellten jedem der Anwesenden drei kleine Gläser mit unterschiedlichen Fruchtsäften daneben.

Nachdem sie gegangen waren, sagte Kite: „Ob Sie Teil der Familie werden, entscheidet die Familie. Ich würde Ihr Verhältnis zu ihr als ‚befreundet und in Aufnahme befindlich‘ beschreiben. Da Sie, genau wie Ihr verstorbener Verwandter, keine Sammler sind, möchte ich meine Zustimmung von zwei Bedingungen abhängig machen: Erstens, Sie nehmen die vereinbarte Summe für das Manuskript wie besprochen entgegen; zweitens, Sie eröffnen den Fab Store wieder. Es versteht sich außerdem von selbst, dass Ihre Zugehörigkeit mit Verpflichtungen einhergeht. Lassen Sie sich über diese von Semolina oder Horse informieren.“

„Mir war nicht bekannt, dass es einen formellen Akt erfordert. Ich dachte, Sie verbindet eine gewisse… Liebe für die gemeinsame Sache.“

„Ohne Frage! Nur handelt es sich dabei nicht um romantische Gefühle, die einmal kommen und dann wieder gehen, sondern um agapé. Agapé bleibt ein ganzes Leben erhalten. Zu gewissen Gelegenheiten stellen wir unsere Verbundenheit immer wieder unter Beweis.“ Mit ironischem Grinsen in Veronicas Richtung fügte er hinzu: „Adel verpflichtet.“

Die junge Frau ignorierte die Stichelei. Ohne Anzeichen, dass sie sie überhaupt wahrgenommen hatte, löffelte sie den Pudding und warf ihrem Vater gelegentlich einen Blick zu.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert