Zach ließ seinen Blick ungeniert durch den ganzen Raum schweifen. „Sehr geschmackvoll!“, sagte er, während er eines der alten Gemälde anstarrte. Sein Kopf wippte, als bestätigte er das Gesagte, signalisierte Veronica jedoch, dass er die Kamera nun ebenfalls entdeckt hatte. Sie befand sich an einem der Zweigpunkte des Maßwerks, so dass sie im krassen Gegenlicht des Himmels über Wallace Castle kaum zu sehen war. In der Regel würde die Aufmerksamkeit von Besuchern ohnehin durch das wundervolle Panorama abgelenkt werden. Das geschulte Auge der Detektivin täuschte man so leicht jedoch nicht. Sie beherrschte die meisten Tricks, die auch er kannte. Innerlich grinste er. Wo eine Kamera hing, konnte ein Mikrofon nicht weit fort sein. Vielleicht gab es welche nahe den offenen Kaminen, aber der erfolgversprechendste Platz war offensichtlich der fünfeckige Tisch in der Mitte des Raumes.
Dieser Meinung schien auch Veronica zu sein. Sie schlenderte auf einen der Sessel zu und ließ sich hineinplumpsen. Ihre kurze kanariengelbe Jacke und der gleichfalls gelbe knielange Rock kontrastierten derart stark mit dem schwarzen Polster, dass es fast das Auge beleidigte. Zach mit seinem dunkelblauen Maßanzug passte sich besser in die Szene ein. Gemächlich ließ er sich zwei Sitze weiter nieder.
Die Tür ging auf. Der Butler trat ein. Er trug ein Tablett, darauf eine Kristallkaraffe voll Saft, zwei Gläser und zwei Schälchen, eines mit Snacks und eines mit Edelpralinen. Er stellte das Tablett an der ihnen gegenüber liegenden Ecke des Tisches ab, schenkte die Gläser jeweils halb voll und servierte sie ihnen zusammen mit den Snacks. Dann verließ er den Raum wieder.
Der Saft ähnelte farblich ihrem Auto, jedoch nicht kräftig genug, um tatsächlich von Orangen stammen zu können. Veronica roch daran. Ihre Brauen schossen nach oben. Sie nippte ein wenig und bleckte die Zähne, gab jedoch keinen Kommentar ab. Sie nahm ein paar Snacks und lehnte sich zurück. Zach, von Natur aus neugierig, musste sofort von dem Getränk kosten. „Wow!“, stieß er nach dem ersten Schluck leise hervor. „Steile Mischung! Ich schmecke Erdbeeren – und…“ Nun roch auch er daran.
„Maracuja“, ergänzte Veronica, als ihr Vater keinen weiteren Tip abgab. „Frisch gepresst. Um diese Jahreszeit. Trotzdem: eine tolle Kombination“, sagte sie so leise, dass man sie kaum hören konnte. Sie formte mit der Rechten eine Faust und hämmerte kraftvoll mit den Knöcheln auf die Tischplatte. Zach grinste breit. Wer immer am anderen Ende der Leitung hing, hatte sich vermutlich gerade die Kopfhörer von den Ohren gerissen.
Sie verfielen in Schweigen. Zach setzte sich bequemer. Er gab Veronica das Handzeichen für ‚Spiel‘ und hob eine Braue. Sie bejahte. Er zeigte an: „Fünf.“
Sie knabberte weiter an den Snacks – das einzige Geräusch erzeugend, das im Raum zu hören war –, blieb ansonsten jedoch bewegungslos sitzen. Nach vier Minuten und fünfzig Sekunden signalisierte sie: „Zeit ist um.“
Zach schaute auf die Uhr. Seine Finger antworteten: „Zehn Sekunden fehlen.“
Sie: „Gut genug. Jetzt du.“ Sie zeigte „Elf.“
Zach rührte sich nach exakt elf Minuten und einer Sekunde wieder. Veronica gab ihm die Differenz bekannt. Sie salutierte seiner Präzision. Er deutete an ihr vorbei auf einen der Feuerplätze. Sie drehte den Kopf und blickte hinüber. Auf dem Sims dort stand eine kitschige Porzellanfigur, die eine Uhr hielt. Erbost schaute sie zu Zach zurück. Dieser öffnete den Mund zu einem stillen Lachen. Die Lektion hatte gesessen. Dass sie die Kamera entdeckt hatte, war ein Meisterstück gewesen. Doch auch weniger sinistre Dinge konnten von Bedeutung werden. Es war besser, man gratulierte sich nie zu früh.
Nach etwas mehr als weiteren fünf Minuten öffnete sich die Tür. Eine sportlich gebaute Gestalt in den Mitt-Dreißigern, etwa 1,90 Meter groß, glattrasiert, mit schulterlangem rotblondem Haar, trat durch die Öffnung. Zügig kam er auf den Tisch zu und grüßte: „Mr Zachary Ziegler! Wie schön, Sie kennenlernen zu dürfen!“
Zach erhob sich aus dem Sessel und griff nach der ausgestreckten Hand des Hünen. Er wunderte sich über die ungewöhnlich hohe Stimme des Mannes, die nicht nur im Gegensatz zu dessen Gestalt sondern auch zu dessen Schraubstockgriff stand. „Die Freude ist ganz meinerseits, Mr… Kite!“, erwiderte er.
„Mr Kite passt ganz wunderbar, Mr Ziegler. Ich heiße eigentlich William Wallace Campbell – der dreißigste dieses Namens –, aber da wir über Geschäftliches sprechen werden, lassen Sie uns bei den Sammlernamen bleiben. Vermute ich richtig, dass Sie selbst noch keinen angenommen haben?“
„Sehr richtig. Wir sind erst vor wenigen Tagen in Liverpool angekommen, und wir sind eigentlich keine Sammler. Ich besitze jedoch so etwas wie einen Künstlernamen: Ludwig Lederrachen.“
„Davon habe ich gehört! Beeindruckend! Sie müssen mir Ihre Künste unbedingt vorführen.“
Veronica, die bislang in ihrem Sessel sitzen geblieben war, hatte dem Dialog mit steigender Belustigung zugehört. Sie stand jetzt auf und sagte: „Er tritt nur vor zahlendem Publikum auf.“
„Sagt wer?“, erkundigte sich der Hüne, ihr nun zugewandt.
„Seine Managerin.“ Sie streckte ihm den rechten Arm entgegen, als erwarte sie einen Handkuss. „Veronica…“
„…Mars!“, ergänzte er. „Welche Ehre, der berühmten Detektivin endlich persönlich gegenüber zu stehen.“
„…Ziegler!“, korrigierte Veronica, während William Wallace Campbell tatsächlich die Gelegenheit wahrnahm, einen Kuss auf ihre Knöchel zu hauchen.
„Ich erkenne eine eiserne Faust, wenn sie mir unter die Nase gehalten wird. Auch für Sie werden wir einen Sammlernamen brauchen, Ms Ziegler.“
„Sie sieht hoffentlich weniger hart aus, als sie sich anhört“, erwiderte sie mit einem Zwinkern. „Was die Namen betrifft – wir sind für Vorschläge selbstverständlich dankbar.“
Zach gab Veronica das Zeichen, sie solle ihr Gastgeschenk überreichen. Die junge Frau griff in die Innentasche ihrer Jacke und holte ein flaches, in Geschenkpapier verpacktes Bündel heraus. Sie gab es Mr Kite.
„Ah, ich liebe Geschenke, die von Herzen kommen!“, rief der Hüne mit der seltsam hohen Stimme. „Es ist sogar noch warm.“ Er nestelte am Knoten des goldenen Seidenbandes, das das Bündel umgab. Als er Band und Papier endlich geöffnet hatte, zog er einen Stapel handsignierter Beatles-Autogrammkarten verschiedener Motive heraus. „Vielen Dank, Mr und Ms Ziegler, für die freundliche Geste. Wussten Sie übrigens, dass sehr viele, womöglich die meisten Autogrammkarten von Mal Evans, dem Beatles-Roadie, signiert wurden? Die Jungs wären sonst vor lauter Schreiben nicht dazu gekommen, auch einmal aufzutreten.“
„Man lernt nie aus“, sagte Zach, der die Bemerkung taktlos und undankbar fand. „Sie stammen übrigens aus dem Koffer, den Sie und andere Sammler bei meinem Stiefbruder bestellt haben. Wie Sie wissen, halten manche das ganze Evans-Archiv für eine Ente.“
„Nicht so Ihr Verwandter, und auch wir nicht. Wir haben Grund zu der Annahme, dass wir die echten Effekten des armen Malcolm aufgespürt haben. Kommen Sie, gehen wir in den Speisesalon und besprechen die Sache im Sitzen. Ich habe uns ein Mittagessen herrichten lassen.“
Kite führte die Zieglers durch eine der Seitentüren neben den Feuerstellen in den nächstgelegenen Raum. Eine lange Tafel, umstanden von dutzenden Stühlen, beherrschte den Saal. An ihrem entfernten Ende war sie von einem Tischtuch bedeckt. Für den Platz am Kopf des Tisches und für die Plätze rechts und links davon standen Gedecke bereit. Drei Diener rückten die Stühle für die beiden Gäste und den Hausherrn zurecht. Ein vierter Diener schenkte Champagner ein. Wenige Minuten später zog sich das Personal zurück. Kite hob sein Glas: „Auf die fabelhaften Sieben!“
„Sieben.“ Veronica stellte die Frage im Tonfall einer Feststellung.
„John, Paul, George, Stu, Pete, Ringo und Bill.“
Zach und Veronica hoben ihre Gläser. Alle tranken einen Schluck.
„Müsste man dann nicht auch auf eine Handvoll weiterer Bandmitglieder trinken?“, merkte Zach an, während er sein Glas abstellte.
„Die Mitglieder von Vorläufern wie Quarrymen oder Silver Beetles sind nie unter der magischen Beatles-Marke aufgetreten.“
„Andy White aber schon.“
„Andy war kein festes Mitglied. George Martin hat ihn lediglich als Sessionmusiker angeheuert, um einen Job zu erledigen. Das triff auch auf eine ganze Reihe Leute wie Billy Preston und Eric Clapton zu. Lassen Sie uns nicht über Details streiten.“
„Details wie, Paul McCartney durch Billy Shears zu ersetzen? Meines Wissens war der nie Teil der offiziellen Story“, hakte Veronica nach.
„Der Wechsel wurde der Öffentlichkeit durch hunderte von Hinweisen bekannt gemacht, aber nur von den Wenigsten für bare Münze genommen“, erwiderte Kite feixend.
„Nachdem man ihnen mindestens eben so viele Dementis und geschätzt die fünfzigfache Menge an Falschbenennungen des Nachfolgers als ‚Paul‘ um die Ohren gehauen hat.“
„Was sollten die Jungs denn tun? Als William die Hysterie in den USA vom September 1969 initiiert hat – Sie wissen schon, diese Campuszeitung und kurz darauf die Radiosendung von Russ Gibb –, hat außer ein paar Freaks niemand die dort erläuterten Hinweise auf Pauls Tod aufgegriffen. Wo die Story im Mainstream gelandet ist, haben die Reporter die ‚Spinner‘ lächerlich gemacht, in deren Augen sie Sinn ergab.“
„Wie wäre es mit einer direkten, ehrlichen, unzweideutigen Aussage seitens der Band gewesen?“
„Seien Sie nicht naiv, Veronica. John und Paul hatten einen faustischen Handel abgeschlossen, und Paul hat den Preis dafür gezahlt. Abgesehen von den Verwerfungen, die ein Geständnis für die Band, womöglich für die ganze Musikszene erzeugt hätte, hätte die Masse der Menschen das Ganze lediglich für einen Marketing-Gag gehalten.“
Veronica starrte Kite angewidert ins Gesicht. Zach schien die Farbe des Champagners zu studieren. Stumm drehte er sein Glas zwischen Daumen und Zeigefinger.
Als niemand widersprach, fuhr der Hüne fort: „Die verbliebenen drei Beatles und mein Großvater haben jenen, die die Wahrheit hören wollen, genügend Hinweise gegeben, ohne sich damit selbst ans Messer zu liefern. Und der Rest der Menschheit behält die Freiheit, die familienfreundliche Fassung der Bandgeschichte in Ehren zu halten. Alle sind glücklich, insbesondere die Paul-Is-Dead-Leute, die weiterhin unter jedem Stein nach Beweisen schauen und andere von ihren Theorien zu überzeugen versuchen können.“
Die Detektive gaben erneut keine Widerrede. Im Grunde hatte Kite ja recht. Bevor das Schweigen zu lange über der kleinen Gruppe lastete, traten wieder die Diener ein, diesmal mit dem ersten Gang der Mahlzeit. Alles sprach dafür, dass diese eine hochtrabende französische Bezeichnung trug; für Zach war es einfach Suppe. Er bevorzugte Veronicas Eintopf, deren in der Eistruhe lagernde Überreste noch immer für eine Mahlzeit reichten, aber sie waren schließlich nicht wegen eines Kochwettbewerbs hierher gekommen. Sie versuchten, die Geschäftsbeziehungen seines Stiefbruders wieder aufzunehmen. Hinsichtlich ihres Ziels war es ein Fehler gewesen, mit Kite in diese gallige Diskussion über moralisch richtiges Verhalten einzusteigen. Dann wiederum hatte der einige Informationen preisgegeben, die wertvoll sein mochten – über Paul McCartney und Billy Shears, aber auch über sich selbst und seinen Charakter. Zach war aufgefallen, dass auch Veronica die mit weniger vorgeprägter Meinung die Fahrt angetreten hatte, nun eine Abneigung gegen den Schlossherrn entwickelte und die Ansicht ihres alten Herrn zu teilen begann. Sie diente ihm als Korrektiv, das anzeigte, ob er sich in Vorurteilen verrannt oder den Mann richtig eingeschätzt hatte: als grobschlächtigen Zyniker, dessen aufgesetzte Noblesse kaum verbergen konnte, dass sein einziger Maßstab er selbst und seine Wünsche waren. Man musste ihm zuerst die Grenzen zeigen, bevor man Verbindlichkeiten einging. Seine Gutsherrenseele mochte gefährlichen Anwandlungen folgen, wenn man sie enttäuschte.
„Mr Kite,“ begann der Detektiv das Gespräch erneut in Gang zu bringen, „meinem Verständnis der Aufzeichnungen meines Stiefbruders zufolge haben Sie die Suche nach dem sogenannten Mal-Evans-Archiv mit in Auftrag gegeben, weil Sie die Überzeugung hegten, das Manuskript seiner Memoiren darin vorzufinden.“
„Das ist richtig“, bestätigte der Hüne.
„Sowohl die Polizei als auch wir selbst haben eine Inventur der Warenbestände vorgenommen. Das Manuskript muss in dem Koffer gelegen haben, den Paul erworben hat – zumindest ein Manuskript unbekannten Titels und Umfangs. Ein solches war jedoch nach dem Mord nicht mehr aufzufinden. Die Polizei geht davon aus, dass der unbekannte Täter es mitgenommen hat, in der Hoffnung, es zu Geld machen zu können. Ich muss Ihnen daher mitteilen, dass wir Ihren Auftrag nicht zu Ende führen können.“
William Wallace Campbell lachte herzhaft. „Mein lieber Mr Ziegler, ich kann Ihnen versichern, dass es in dieser Beziehung kein Problem zwischen uns gibt. PC31 hat mich schon am Freitag, dem Tag des Eintreffens der Sendung, von der frohen Botschaft in Kenntnis gesetzt, dass unsere Wette von Erfolg gekrönt gewesen ist. Ich bin am Samstag in den Fab Store gegangen, um das Manuskript höchstpersönlich in Empfang zu nehmen.“
„Moment, Moment, Moment! Sie haben – waaas?“, unterbrach der Detektiv den Redefluss des Sammlers.
Gleichzeitig hatte auch Veronica ihre Stimme erhoben: „Wer ist PC31?“