21) Ankunft in Wallace Castle

Als sie Liverpool hinter sich gelassen hatten und einer kurvigen Straßen in nördlicher Richtung folgten, hatte Veronica wieder größere Freude hinter dem Steuer. Sie mochte den Stadtverkehr überhaupt nicht. Landstraßen und Autobahnen gaben dem GT mehr Gelegenheit, seine Fahreigenschaften zu präsentieren. Manche nannten ihn eine Heckschleuder, aber Veronica fand, es mangelte jenen Leuten an Feingefühl beim Spiel mit Lenkrad und Pedalen. Jedes Vehikel besaß seine eigene Physik und jede Straße ihre eigenen Herausforderungen. Dass die Eigenschaften einer Straße beim Fahren berücksichtigt werden mussten, verstand sich von selbst. Was also war das Problem mit den spezifischen Eigenschaften dieses Autos? Sie erspähte eine enge Biegung in einiger Entfernung, ging vom Gas und schaltete einen Gang hinunter. Während sie mit genau der richtigen Geschwindigkeit und nur der Ahnung quietschender Reifen durch die Kurve rollte, um danach sofort wieder zu beschleunigen, dachte sie, dass sie dieses Gefühl wirklichkeitsnahen Reisens, das ihr der GT gewährte, lieber mit einem Fahrrad tauschen würde als mit elektronisch betreutem Fahren.

Mit wenigen Ausnahmen hielten die Leute sie und ihren Vater für Sonderlinge, weil sie Dinge gern selbst taten, Gegenstände lieber selbst reparierten und Zusammenhänge so oft als möglich selbst ergründeten. Die beiden Detektive fühlten sich unwohl, wenn Bildschirme oder staatlich zertifizierte Experten sie von den Schrauben und Zahnrädern eines Getriebes fernhielten. Sich in Fremdsteuerung, egal wie geringfügig, zu begeben, machte Menschen faul – und weich in der Birne, fand Veronica. Elektronische Unterstützung, Krankenkassen, Lohnarbeit, Expertentum oder die öffentliche Meinung konnten eine ebenso unwiderstehliche Abhängigkeit bewirken wie Tabak, Alkohol oder Drogen. Letztlich erzeugte jedes solche Verhältnis eine Daseinsunfähigkeit, die den Benutzer direkt in die Ketten von geld- und machthungrigen Strukturen führte. Wie viele Menschen verstanden, dass der Weg zu einem angestrebten Ziel genauso Teil des Lebens war und mindestens so viel Freude bereitete, wie dort angekommen zu sein? Wie viele schafften es, das Klingeln des Telefons zu missachten? Wie viele hielten es wochenlang ohne Internet aus? Wer traute sich zu, seinem Bauchgefühl zu glauben statt der Diagnose eines Arztes? Wer leistete es sich, dem Chef, dem Nachbar, dem Lebenspartner, der Mehrheitsmeinung auch dann zu widersprechen, wenn das potenziell mit Opfern verbunden war? – Eben!

„Ich glaube, wir haben die Adresse gleich erreicht. Das Gebäude dort drüben auf dem Hügel dürfte Wallace Castle sein“, unterbrach ihr Vater den Gedankengang. „Mann, das ist keine Villa sondern ein Palast.“

Die Fassade der dreiflügeligen Anlage in neugotischem Stil bestand in der Hauptsache aus großen Maßwerkfenstern und war von Zinnen bekrönt. An allen Ecken des Gemäuers ragten filigrane Erker heraus, die sich turmartig über der Traufhöhe fortsetzten. Über den glänzenden Dachpfannen erhoben sich zahlreiche Schornsteine. Das Gebäude war von einem Park, der Park von einem Wäldchen, und das Wäldchen von einer hohen Mauer umgeben. Wallace Castle überblickte das Tal, durch das die alte Handelsstraße von Liverpool ins schottische Hochland verlief, und auf der sie sich ihm näherten. Sie brauchten mehr als fünf Minuten, um das kunstvoll geschmiedete Tor in der Mauer zu erreichen, durch das der Weg zum Schloss führte. Als der Wagen davor zum Stehen kam, stieg Zach aus, um auf ihre Ankunft aufmerksam zu machen, doch er konnte keine Klingel entdecken. Ein rotes Blinken schräg über ihm verriet die Position einer aktiven Überwachungskamera. Der Detektiv hatte sie kaum entdeckt, als sich auch schon die beiden Flügel des Tors nach rechts und links zurückzogen.

Zach stieg wieder ein. Er und Veronica blickten einander an. Sie zuckte die Achseln und steuerte den Sportwagen langsam durch die Öffnung auf eine Pflasterstraße, die sich in langen Kurven durch den Wald nach oben wand. Als sie die letzten Bäume passiert hatten, raubte die Kulisse ihnen für einen Moment den Atem. Niedere, präzise getrimmte Büsche formten im Verband mit Blumenrabatten einen Park voller Labyrinthe, Muster und Symbole. Mehr als einen flüchtigen Blick auf den französischen Garten gestattete die Ehrfurcht gebietende Prachtfassade von Wallace Castle, der sie sich jetzt näherten, jedoch nicht. Die Zufahrt führte nun genau auf die Mittelachse des Schlosses zu. Zwischen den beiden Gebäudeflügeln teilte sie sich in zwei Arme, die unter dem Dach einer Vorhalle wieder zusammenfanden. Veronica nahm den linken und brachte den GT direkt vor der Fassade der Halle zum Stehen. Den Platz jenseits der spitzbogenförmigen Durchfahrt, direkt vor dem Haupteingang, belegte bereits ein Auto, mit dem sie, weil es an diesem Ort völlig unstandesgemäß wirkte, nicht gerechnet hätten. Dem auf Hochglanz polierten makellosen weißen Lack des Volkswagens zufolge hätte man zwar ein Fahrzeug frisch vom Band vermuten können, aber natürlich wurden heutzutage keine Käfer mehr hergestellt.

Erneut schauten der Detektiv und seine Tochter sich gegenseitig an. „Er hat wohl weiteren Besuch“, vermutete Zach. Veronica zog den Zündschlüssel ab. Sie öffnete die Fahrertür und stieg aus. Auch Zach stieg aus. Sie gingen entlang der eleganten Motorhaube des GT auf den Eingang zu. Amüsiert betrachteten sie im Vorbeigehen das eiförmige Fahrzeug, dessentwegen sie draußen parken mussten und das hier so völlig deplatziert wirkte. Zum Glück regnete es nicht. Routinemäßig musterte Zach das gelbe Nummernschild – eine Marotte, die ihm mehr als ein Mal geholfen hatte, Fälle zu lösen. „LMW 281F“, sprach Veronica aus, was sein Geist gerade abzuspeichern im Begriff war.

Es freute ihn, wie gut sie ihr Handwerk beherrschte. Als er selbst dreiundzwanzig Jahre alt gewesen war, hatte er nicht nur einen Gutteil seiner Schulbildung vergessen; er war mehr an Tagträumen, Literatur und nächtlichen Diskussionen mit Kommilitonen interessiert gewesen als an seiner Ausbildung. Er hatte seine Jugend genossen, wie es ihm in den Sinn gekommen war: pflichtvergessen. Manchmal befürchtete, dass er Veronica durch die frühe Einbindung in die Detektei die Möglichkeit genommen hatte, sich wie andere Mädchen ihres Alters zu entwickeln. Aber so wenig er selbst sich als junger Mann für Sex & Drogen & Rock‘n‘Roll interessiert hatte, kümmerte sie sich um Boygroups, Frauenabende oder den Austausch von Kochrezepten. Es hatte ihr Spaß gemacht, Logikrätsel zu knacken, mit den Harley-Freaks an Motorrädern herumzuschrauben und ihrem Vater einige Routinetätigkeiten abzunehmen. Sie besaß Talent, das hatte er schnell bemerkt. Als sie ihre pubertäre Unsicherheit hinter sich gelassen hatte, entwickelte sie außerdem eine unkomplizierte Art des Umgangs, die es anderen leicht machte, ihr Vertrauen entgegenzubringen.

Seite an Seite näherten sie sich nun einer schweren, mit kunstvollen Schnitzereien ornamentierten Holztür. Zach betätigte den auf Brusthöhe daran befestigten Klopfer, einen dicken, von einem Adlerschnabel gehaltenen Bronzering, den er gegen eine metallene Schlagfläche hämmerte. Einige Sekunden später hörten sie, wie ein Riegel zurückgezogen wurde. Langsam schwang die Tür auf. In der Öffnung stand eine Person, die sie als Butler identifizierten. „Guten Tag. Sie wünschen?“

Zach antwortete: „Wir sind Veronica und Zachary Ziegler, Inhaber von Campbell‘s Fab Store. Mr Kite hat uns für elf Uhr eingeladen.“ Er zog die Visitenkarte heraus, die ‚Melone‘ ihm überreicht hatte, und hielt sie dem Butler unter die Nase.

Dieser nickte. Er bedeutete ihnen einzutreten. Während sie in eine große, von zahlreichen Säulen bevölkerte Eingangshalle schritten, verbeugte sich der Butler leicht. Dann schloss er die Tür wieder. „Bitte folgen Sie mir“, sagte er und führte sie über einen schachbrettartig gemusterten Boden zu einer prunkvollen Treppe, über die sie ins nächste Stockwerk stiegen. Er ließ sie direkt gegenüber in einen Salon ein, dessen Wände mit alten Veduten bedeckt waren. In der Mitte standen fünf bequem aussehende armlehnenbewehrte Sessel mit Seidenpolstern um einen pentagonförmigen Tisch. An den Schmalseiten rechts und links befanden sich Feuerplätze, daneben jeweils eine kleine Tür. Gegenüber dem Eingang gewährten große Maßwerkfenster den Blick auf das Dach der Vorhalle, den Garten und den Wald dahinter. Über dessen Wipfel hinweg konnten die Detektive im atmosphärischen Dunst undeutlich Liverpool am Horizont ausmachen. „Bitte nehmen Sie Platz“, offerierte der Butler. „Der Hausherr wird Sie zu sich rufen, sobald er eine dringende Angelegenheit erledigt hat. Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen?“

Zach und Veronica wechselten einen kurzen Blick und nickten einander zu. „Fruchtsaft bitte“, orderte Veronica. Zach zeigte durch eine Handgeste an, dass er sich dem Wunsch seiner Tochter anschloss. Der Mann verbeugte sich erneut und schritt dann steifen Schrittes hinaus. Zach hob eine Augenbraue und trat an eines der Fenster. Veronica gesellte sich zu ihm. „Wird er uns warten lassen?“, fragte sie, während sie die Symbole im Garten zu erkennen versuchte. Ihr Blickwinkel war ungünstig, das Fenster zu niedrig gelegen, das Gelände leicht abschüssig. Sie konnte ein Labyrinth in Form eines Keltenkreuzes ausmachen.

„Nachdem ich am Sonntag einen Mangel an Respekt gezeigt habe, müssen wir damit rechnen. Außerdem haben es hohe Herrschaften selten eilig, das Fußvolk zu sehen. Ich hoffe, es bringt deinen Terminkalender nicht gar zu sehr durcheinander“, witzelte Zach.

„Keineswegs. Die Aussicht ist besser als im Hinterzimmer der Rainford Gardens, und die Sessel sind gemütlicher als im Wartezimmer meines Zahnarztes. Hier halte ich es eine Weile aus.“ Sie signalisierte durch vierfaches Blinzeln, dass sie beobachtet wurden. Zach legte den Kopf schief, sah zu Boden, dann auf ihre Hände. Die Finger der jungen Frau durchliefen einige schnelle aber unauffällige Bewegungen: „Eine Kamera; über uns; am Fenster.“ Sie lehnte sich an eine der steinernen Maßwerkstützen des Fensters und blickte scheinbar unbefangen auf das Dach ihres orange lackierten Sportwagens hinab. Sie winkelte ihr rechtes Bein an, die Zehenspitze ihres Cowboystiefels auf den Boden gestellt: ein unhörbares „Hier.“

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