„Keine Brezeln“, verkündete Zach die schlechten Neuigkeiten, nachdem er von der Jagd zurückgekehrt war. „Was schwäbische Spezialitäten angeht, liegt Liverpool eben doch in Afrika.“
Der Tisch war für zwei gedeckt, der Kaffee brodelte auf seiner Warmhalteplatte und die Sonne schien zum Fenster herein und tauchte den Raum in ein warmes Licht. Die Szene machte Lust auf einen gemütlichen Tag. Tochter und Vater setzten sich einander gegenüber.
„Apropos Afrika,“ begann Veronica das Gespräch, während sie Zach schwarze Brühe in die vorgewärmte Tasse goss. „Rate mal, wer heute früh vor dem Laden stand?“
Der Detektiv nippte kurz, dann goss er sich die Hälfte seines Humpens hinter die Binde. Veronica hatte in Pauls Küchenschränken eine bunte Sammlung von Motivtassen in allen Größen gefunden, die meisten mit Beatles- oder sonstigem Musikbezug. Die größte unter ihnen, die sie Zachs Gedeck beigefügt hatte, trug auf einer Seite ein Foto des mittelalten Paul McCartney; er schaute direkt in die Kamera, hatte die Augenbrauen angehoben, den Mund halb geöffnet, die Lippen gespreizt; ein Schriftzug verkündete, was das Bild fast von allein zu sagen schien: „Bäääh!“ Sie hegte den Verdacht, dass sich dahinter mehr als nur Klamauk verbarg, fand das Motiv jedoch auch ohne Insiderwissen urkomisch.
„Ist das wieder eins von deinen Ratespielchen, mit denen du mich morgens so gern quälst?“
Veronica ließ einen Moment verstreichen, während sie ihn herausfordernd anschaute. „Ja,“ sagte sie gedehnt.
Zach seufzte. „Afrika-Bezug also. Jemand, den ich kenne, natürlich.“
„Ja.“
„Aus London?“
„Nein.“ Sie schlachtete die Bäckereitüte, in der sich sechs Brötchen befanden. Eines von ihnen zog sie heraus und legte es demonstrativ bei sich auf den Teller. „Du hast noch fünf Fehlversuche, dann wärme ich dir Eintopf auf.“
Zach feixte. „Aus Liverpool dann?“
„Ja.“
„War Henry the Horse wieder hier?“
„Nein. Der sagte doch, dass er immer Montags in der Stadt frühstückt – morgen erst.“ Sie zog ein zweites Brötchen aus der Tüte und legte es wiederum auf ihren Teller. „Das war ein dummer Fehler, Herr Ziegler.“
„Miller?“
Veronica griff wortlos ein weiteres Brötchen aus der Tüte, um es den anderen beizugesellen.
Aus Zachs Kehle ertönte ein Grollen, das geeignet war, einem Pitbull Minderwertigkeitskomplexe einzuflößen. „Ich kenne niemand aus Afrika. Keiner von unseren Bekannten ist dort gewesen. Ist das wieder so ein Ding mit Beatles-Bezug?“
Veronica überlegte. „Ja, aber davon kannst du nichts wissen. Daher: nein!“ Sie schnappte sich eine vierte Schrippe aus der braunen Papiertüte.
„Leg das zurück! Du verstößt gegen die Regeln!“
„Verklag mich doch. Möchtest du einen Hinweis kaufen?“
„Ja; und wehe, du führst mich aufs Glatteis…“
„Würde ich nie wagen.“ Sie kassierte das vorletzte Brötchen aus der Tüte, grinste. „Sie spricht Schwäbisch, aber kein Hochdeutsch.“
Zach klatschte sich mit der Hand auf die Stirn. Ein Stöhnen entrang sich seiner Brust. „Ach, klar. Die Reingeschmeckte – die Kraut mit den italienischen Wurzeln. Die war heute Morgen hier? Hast du mit ihr gesprochen?“
Als Veronica nach der Bäckertüte griff, um ihm das verbliebene Brötchen zu reichen, schnappte er blitzschnell selbst danach und riss sie an sich. Sie zuckte die Achseln. „Ja, die war‘s. Siehst du – kein Beatles-Bezug, soweit es dich betrifft. Ich habe völlig fair und korrekt gespielt.“
„Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen. Was sucht eine katholische Frau zu solch unchristlicher Zeit in einem Rockmusikladen? Was erzählte sie?“
Veronica berichtete unter wortgetreuer Wiedergabe von ihrer Begegnung mit Maria Borghese.
Zach bestrich sein einsames Brötchen mit Butter und Marmelade und kaute genüsslich auf den großen Bissen, die er sich davon einverleibte, während er seiner Tochter zuhörte. „So heißt sie also. Maria,“ kommentierte er, als sie geendet hatte. „Ein hübscher Name; der passt zu ihr.“
„Das ist alles, was dir zu ihr einfällt? Ein hübscher Name? Muss Liebe schön sein“, stichelte sie gutmütig.
„Also, man wird doch noch…“ Er schnaufte, schaute sehnsüchtig auf den gegenüberliegenden Teller und fragte: „Leihst du mir eins von denen?“
Veronica lächelte warmherzig. „Nimm so viele, wie du magst. Mehr als eins oder zwei schaffe ich eh nicht.“ Dann fuhr sie fort: „Ich fand, sie war gut gekleidet, sah selbstbewusst aus und sie hat einen geistig wachen Eindruck auf mich gemacht. Ich glaube außerdem, sie verfügt über einige Menschenkenntnis und Mitgefühl. Sie zeigt Sinn für Humor, muss wohl detektivisches Gespür besitzen, wenn sie Pauls Suchaktionen zu Erfolg verholfen hat, und scheint entscheidende Einzelheiten in großem Umfang wahrnehmen und erinnern zu können.“
„Fast zu gut, um wahr zu sein“, pflichtete Zach ihr zufrieden kauend bei. „Bist du womöglich diejenige hier, die sich ein bisschen verknallt hat?“ Er zwinkerte, als sie empört schnaubte. „Schon okay, ich werde morgen mit ihr reden. Wenn sie auch nur halb so kompetent ist, wie es aussieht, kann sie bei uns bleiben. Wir brauchen dringend Hilfe, sobald wir den Laden wiedereröffnen.“
„Wow, das kommt überraschend. Du hast dich entschieden, ihn zu behalten?“
„Vorerst. Mit Marias Hilfe werden wir den Abverkauf von Teilen des Bestands durchführen. Falls das klappt, könnten wir einen Kundenauftrag annehmen, um zu sehen, ob wir in der Lage sind, den Fab Store gewinnbringend weiterzuführen. Über ein mögliches Engagement jenseits davon will ich im Augenblick gar nicht nachdenken. Die großen Herausforderungen beginnen dort gerade erst. Eine Chance auf Erfolg hat der Laden einerseits eh nur mit deiner Unterstützung, andererseits müssen wir die Detektei in unsere Planungen einbeziehen. Für dich als Mitinhaberin könnte sie das Rückgrat deiner beruflichen Zukunft darstellen. Wir sollten uns in den kommenden Wochen und Monaten also ausgesprochen vorsichtig auf eine endgültige Entscheidung zubewegen.“
„Oder mit allen vier Händen die einmalige Gelegenheit beherzt beim Schopf packen. Dank Onkel Pauls Barvermögen verfügen wir über ausreichend Substanz, gegebenenfalls jederzeit irgendwo etwas Neues anzufangen. Bessere Ausgangsbedingungen werden wir niemals wieder bekommen. Auf, lass uns das Ding reißen!“
Sie hatten mit Kaffeetassen auf ihren Wagemut angestoßen, sich gegenseitig beglückwünscht und anschließend beratschlagt, was aus diesem Sonntag werden sollte. Sie einigten sich auf ‚keine Arbeit‘, ‚Film anschauen‘, ‚Mittagsschlaf‘ und zum Ausklang des Tages ‚Buchbestand in Augenschein nehmen.‘ Veronica holte ihren Laptop aus jenem Zimmer, das gerade eben per Beschluss des Familienrats ihr persönlicher Raum geworden war. Sie trug das Gerät die Treppe hinunter ins Hinterzimmer des Ladens und baute es auf dem Tischchen vor dem Sofa auf. Sie rückte den Sessel so zurecht, dass sie sowohl den Bildschirm als auch die Straße vor ihrem Laden, die sie durch die geöffnete Zimmertür sah, bequem beobachten konnte. Sie wollte ein besseres Bild von den Zyklen der Betriebsamkeit im Cavern-Viertel gewinnen. Es interessierte sie, welche Art Leute zu welchen Zeiten die Rainford Gardens bevölkerten. Am vierten Tag ihres Aufenthalts im Fab Store wusste sie außerdem noch immer nicht, welche Läden es neben und gegenüber dem ihren gab und wer sie führte. Sie würde vielleicht morgen Vormittag, nachdem sie mit Maria gesprochen hatten, eine Runde durch die Nachbarschaft drehen, um sich vorzustellen.
Das Gebläse des Mobilrechners arbeitete hörbar angestrengt, um die CPU mit genügend Kühlung zu versorgen, damit diese das übergewichtige Betriebssystem hochfahren konnte. Das arme Ding wuchtete Modul um Modul in den Speicher, während Veronica gelangweilt die Köpfe zählte, die auf der Straße am Laden vorbeigingen. Zach kam die Treppe heruntergestiegen. Er pflanzte sich der Länge nach aufs Sofa. „Okay, was schauen wir an?“, fragte er.
„Magst du das Genre oder den Titel aussuchen?“, fragte sie zurück.
„Den Titel. Sag an, nach was ist dir zumute?“
„Gib mir was Lustiges.“
Zachs Augen schienen die Decke nach passenden Filmtiteln abzusuchen. Nach einigen Momenten konnte Veronica seinem Gesichtsausdruck entnehmen, dass er fündig geworden war. Er stieß ein bellendes Lachen aus.
„Ja, ich glaube, der Film wird mir gefallen“, sagte sie spöttisch. „Wie heißt er denn?“
„‚Dark Star‘ eins von John Carpenters Frühwerken.“
„Sterne, Raumschiffe, Aliens. Gähn!“
„Das Raumschiff sieht aus wie ein Bügeleisen, das Alien wie ein Hüpfgemüse und eine philosophierende Bombe befindet sich ebenfalls an Bord..“
„Na gut, mein Interesse ist geweckt. Leg ein.“
Eine halbe Stunde vergnügter Lautäußerungen später hatte Veronica vergessen, weshalb die Tür zum benachbarten Verkaufsraum offen stand. Der B-Streifen zog all ihre Aufmerksamkeit auf den Schirm. Ihr Vater und sie schossen kichernd Kommentare hin und her. Dann holte sie ein Klopfen an der Ladentür aus dem Raum zwischen den Sternen in das Hinterzimmer ihres Geschäfts in Liverpool zurück. Zunächst ging das Geräusch in der Soundkulisse des Films unter, doch seine kräftigere Wiederholung veranlasste Veronica schließlich, nach draußen zu schauen. Ein Mann in der traditionellen Kleidung englischer leitender Büroangestellter – komplett mit Aktentasche, schwarzem Anzug, Juppe, weißem Hemd und Melone auf dem Kopf – hatte sich vor ihrem Eingang aufgebaut. Er setzte gerade erneut an, die Tür mit seinen Fingerknöcheln zu bearbeiten. Veronica stoppte den Film, sehr zum Ärger ihres Vaters, der sich köstlich über Sgt. Pinbacks Kapriolen amüsiert hatte, das ausgebüxte Alien wieder einzufangen. Er zog die Augenbrauen zusammen. Eine steile Falte bildete sich über seiner Nasenwurzel. „Was ist?“
„Besuch. Sieht offiziell aus.“
„An einem Sonntag?“, quäkte er. „Der soll sich verzischen!“
Er stand dennoch auf, schlüpfte in seine Pantoffel und schlurfte durchs Halbdunkel des unbeleuchteten Verkaufsraums zur Fronttür. Dabei stieß er mit den Zehen des rechten Fußes gegen ein Tischbein. Er fluchte leise und hüpfte auf dem anderen Bein der Tür entgegen. Der Besucher hatte ihn nun bemerkt und das Klopfen eingestellt. Geduldig blickte er Zach entgegen, der sich um eine würdigere Fortbewegungsweise bemühte. Der Detektiv griff nach dem Schlüssel, den er bei der Rückkehr vom Bäcker auf dem Tresen liegen gelassen hatte. Zügig schloss er auf, öffnete die Tür und herrschte den Mann an: „Ja? Sie wünschen?“
„Mr Zachary Ziegler?“
„Will wer wissen?“