Als Veronica am Sonntag Morgen in den Laden ging, um das Sgt. Pepper-Album unter die Lupe zu nehmen, sah sie vor der Außentür eine Frau stehen. Zuerst wollte sie sie ignorieren, denn sie hatten das Geschäft noch nicht wieder eröffnet. Ihr kam jedoch das Gesicht bekannt vor. Sie trat näher und erkannte die Bedienung aus dem italienischen Restaurant, das sie vor drei Tagen besucht hatten. Die Kellnerin winkte und gab ihr durch Handzeichen zu verstehen, dass sie gern hereinkommen würde. Veronica schloss auf und öffnete.
Die Frau lächelte breit. „Grazie. Wie schön, Sie wiederzusehen, Signorina. Nur ausgerechnet hier… kaufen Sie den Fab Store?“
„Guten Morgen, Frau… äh…“
„Borghese. Maria Borghese.“ Sie trug ein einfaches schwarzes knielanges Kleid, einen kleinen schwarzen Hut und führte eine Handtasche mit.
„Kommen Sie doch herein, Frau Borghese. Mein Name ist übrigens Veronica Ziegler. Ich bin die Nichte von Herrn Campbell.“
„Oh, dann sind Sie die Erbin?“
„Nein, mein Vater. Sie haben ihn ja schon kennengelernt.“
„Si, si. Freundliche Menschen vergesse ich nicht so schnell. Ist er ebenfalls hier?“
„Ja, aber er schläft noch. Kann ich etwas für Sie tun, Frau Borghese?“
„Womöglich. Ich komme mit mehreren Anliegen zu Ihnen. Zunächst einmal möchte ich Ihnen mein Beileid für den Verlust Ihres Verwandten ausdrücken. Signore Campbell war ein feiner Mann, stets korrekt und der Wahrheit verpflichtet. Auch ich trauere um ihn.“
„Danke für Ihr Mitgefühl. Die Umstände seines Todes sind schockierend. Wir fühlen uns sehr beunruhigt.“
„Das kann ich nachvollziehen. So geht es uns allen.“
„Kannten Sie ihn persönlich, Frau Borghese?“
„Jeder hier im Viertel und jeder in Liverpool, der auf unsere Fab Four stolz ist, kannte ihn. Doch ja, ich kannte ihn näher. Wir haben auf mehreren Ebenen zusammengearbeitet. Unter anderem deshalb kam ich hierher.“
„Oh? Ich dachte, Sie verdienen Ihr Einkommen im Restaurant.“
Die Frau schüttelte den Kopf. „Signorina, niemand verdient sein Einkommen in einem Restaurant, oft nicht einmal die Betreiber. Ich habe für Herrn Campbell täglich den Laden gewischt und wöchentlich die Wohnung geputzt.“
„Das hört sich alles andere als nach einem lukrativen Job an.“
„Ein bisschen und ein weiteres bisschen ergeben einen ganzen Bissen. Signore Campbell hat ordentlich bezahlt, und er gab mir manchmal anspruchsvollere Aufträge, von denen wir gut leben konnten.“
„Ihre Kinder und Sie? Von welcher Art Aufträge sprechen Sie?“
„Meine Kinder stehen längst auf eigenen Beinen. Signore Campbell und ich haben zusammen die Archiv- und Internetrecherchen durchgeführt, die die Beschaffung von Memorabilia ermöglichten.“
„Und Sie besuchen uns heute, weil Sie hoffen, Ihre Arbeit wieder aufnehmen zu können, nehme ich an.“
„Das wird selbst unter günstigsten Bedingungen nicht leicht sein. Niemand kann Signore Campbells Gespür für dieses Geschäft und seine persönlichen Beziehungen ersetzen. Aber ich kenne meinen Anteil am Erfolg des Fab Store,“ sagte sie stolz. „Daher hege ich die Hoffnung, dass ein Nachfolger, der nicht ganz auf den Kopf gefallen ist, sich vielleicht einzuarbeiten versteht.“
„Wir haben ähnliche Überlegungen angestellt. Mein Vater und ich führen eine Detektei, die uns zwar nicht reich macht, aber ein ausreichendes Einkommen generiert. Wenn wir den Laden weiterführen sollen, brauchen wir Expertise: Details aus dem Leben der Beatles, oder Kenntnisse der Sammlerszene und des Auktionswesens, um nur einige wenige Punkte zu nennen, in denen es bei uns hapert. Ein gewisser Mr Bishop, den Sie eigentlich auch kennen müssten, hat uns dennoch Mut zugesprochen. Wir sind realistischerweise skeptisch.“
„Ach, Henry the Horse kennen Sie bereits? Ich schätze ihn als einen äußerst ehrenwerten Mann ein. Er hat stets alle Absprachen eingehalten, pünktlich bezahlt und: Ich habe ihn nie bei einer Lüge ertappt. Manche Leute nehmen es mit der Wahrheit nicht so genau, wie Sie bei Ihrer Tätigkeit bestimmt erfahren mussten.“ Maria Borghese zwinkerte.
Veronica bewegte ihre Hände auf eine Weise, die signalisierte, dass es Teil ihres Alltags war. „Die Spreu vom Weizen zu trennen gehört zu unserem Geschäft; anscheinend gehörte es auch zu dem von Onkel Paul.“
Die Frau nickte eifrig. „So ist es. Wir kannten unsere Pappenheimer unter den Kunden, wir mussten aber auch falsche von richtigen Fährten trennen. Es gibt dort draußen viele Leute, die sich wichtig machen wollen, indem sie unhaltbare Behauptungen aufstellen. Da gibt es zum Beispiel jemand auf Hawaii, der den angeblichen Mini von John Lennon für 250.000 Dollar anbietet – mit Papieren. Angeblich sei der Wagen weitgehend im Originalzustand. Selbst wer nur ein bisschen Ahnung von der Materie hat, sieht schnell, dass da etwas nicht stimmt. Wenn man die Seite im Internet Archive zurückverfolgt, fällt auf, dass anfangs keine Papiere erwähnt wurden.“
„Aha, sie waren also am Erwerb von LGF 969D beteiligt.“
„696. Die Nummer des Originals lautet LGF 696D“, korrigierte Mrs Borghese.
„…. wie in Sammlerkreisen bekannt ist!“, ergänzte Veronica, wobei sie den Tonfall des Notars Miller zum Besten gab.
Maria Borghese lachte trocken auf. „Den Herrn haben Sie offensichtlich auch schon kennengelernt. Nun, Signore Campbell und ich konnten die Spur des Autos nachverfolgen. Er ist inzwischen umlackiert worden – noch von John selbst –, aber er hat seine Nummerntafeln all die Jahrzehnte behalten. Der Wagen in Hawaii dagegen trug ein bisher unbekanntes Schild.“
Veronica war von der Detailkenntnis und dem wachen Geist der Frau beeindruckt. Sie fand, hier gab es wenig zu überlegen. Diese Mrs Borghese hatte das Schicksal zu ihnen gesendet. Natürlich konnte die Frage einer Festanstellung nur ihr Vater abschließend beantworten, aber sie hatte ein gutes Gefühl bei dieser Frau. Sie sagte: „Ob wir Sie einstellen werden, muss natürlich der Boss entscheiden.“ Sie grinste schief. „Und es hängt zuallererst davon ab, ob wir den Laden behalten. Aber wir haben uns schon über eine Putzhilfe unterhalten. Ich denke, Sie können morgen um dieselbe Zeit wieder herkommen, um ‚auf Probe‘ zu putzen; natürlich voll bezahlt. Alles Weitere bereden wir später. Was halten Sie davon?“
„Signorina, ich freue mich sehr. Grüßen Sie Ihren verehrten Herrn Vater von mir. Ich hoffe, dass er meine Dienste annimmt – zumindest, bis die Entscheidung über den Laden gefallen ist. Ich nehme doch richtig an, dass Sie da ein Wörtchen mitzureden haben?“
Sie war verdammt schnell von Begriff und sie hatte ein Gespür für Menschliches, dachte Veronica bewundernd. Außerdem fühlte sie sich, wie schon bei ihrer ersten Begegnung im Restaurant, vom sympathischem Wesen der Frau vereinnahmt. Das konnte natürlich Maskerade sein. Notorische Betrüger oder Psychopathen beispielsweise besaßen häufig die Gabe, ihre Opfer zu manipulieren, indem sie sie aushorchten, um ihnen anschließend genau das zu erzählen, was sie hören wollten. Veronicas Bullshit-Detektor hatte nicht ausgeschlagen. Das konnte ein gutes Zeichen sein – oder eine gefährliche Lücke in ihrer Wachsamkeit. Sie entschied sich, dem schönen Schein für heute zu trauen, während sie eine geistige Notiz an sich selbst verfasste, es nicht zu weit damit zu treiben. Ihr Vater hatte ebenfalls einen guten Riecher für schwierige Menschen, wie er sie euphemistisch nannte. Er würde den Versuch, sie über den Tisch zu ziehen, schnell unterbinden – falls es einen solchen gab. Falls Maria Borghese die war, die sie zu sein schien, dann… „Ja, sicher,“ sagte sie. Sie hatte ein Wörtchen mitzureden. Ganz entschieden.
Sie hatte gerade den Fuß auf die erste Treppenstufe gesetzt, da fiel ihr wieder ein, weshalb sie eigentlich in den Verkaufsraum gegangen war. Vor zwei Tagen bereits hatte sie das Sgt. Pepper-Cover in Augenschein nehmen wollen, doch ständig vereinnahmte etwas ihren Geist, bevor sie ihre Absicht realisieren konnte. Am Freitag war es Henry gewesen, am Samstag die Kofferrecherche und heute Mrs Borghese. Im Lichte neuer Fakten flexibel zu bleiben empfand sie einerseits als Stärke, andererseits verleitete es dazu, sich von den Ereignissen in eine atemlose Jagd treiben zu lassen. Was sie seit ihrer Ankunft durch Gespräche und Recherchen erfahren hatten, war sehr erhellend gewesen, in der Tat sogar atemberaubend, wie eine intellektuelle Schnitzeljagd, die von einem Hinweis zum nächsten führte, während der Rest der Realität nahezu völlig ausgeblendet blieb.
Veronica musste schmunzeln, denn es erinnerte sie an einen Cartoon, den sie gesehen hatte: Ein Pokémon-Go-Spieler folgte gesenkten Hauptes den Hinweisen auf dem Display seines Handys – direkt über den Rand einer Klippe. Es waren tatsächlich Unfälle geschehen; jemand hatte daraufhin eine App entwickelt, die das Kamerabild halb transparent überlagerte, damit ihr User wenigstens nicht durch eine ordinäre Bananenschale oder eine Bordsteinkante zu Fall gebracht wurde. Die Verengung des optischen und geistigen Horizonts durch die Spiele-App minderte die Aufmerksamkeit der Anwender jedoch auch in anderer Hinsicht: Buchstäblich unter ihrer Nase wurden ihnen Bewegungsdaten, Konsumvorlieben, Wahrnehmungsgewohnheiten und andere persönliche Daten abgesaugt, um ihr Handy dann mit subtilen Konsumbotschaften zu füttern. So steuerte man die Spieler gezielt hier in einen Imbiss, da in einen Klamottenladen und dort in ein Musikgeschäft, wo sie, oft gegen ihre sonstigen Gewohnheiten, freundlicherweise ein paar Euro, Pfund, Dollar oder Yen hinterließen. Google-Werbung macht sich auf mehr Weisen bezahlt als nur durch Klicks auf einer Suchergebnisseite. Und die Kamera-App hatte die User zum Weiterspielen verleitet, wo eine schmerzhafte Prellung angebracht gewesen wäre, um sie wieder zu sich selbst zu bringen…
Doch was beschwerte sich diese junge Nachwuchsdetektivin? Sie folgte in Gedanken ja ebenfalls schon wieder Brotkrumen und stand im Begriff, ihr Vorhaben aus den Augen zu verlieren. Der menschliche Geist bestand aus einem Sack voller Flöhe, dachte Veronica. Wie hatte ihr Vater es einmal beschrieben? Es bedurfte einiger Übungen und Tricks, um sie beisammen zu halten, damit sie Kunststücke aufführten, statt einen durch lästiges Jucken abzulenken.
So. Und nun würde sie…
„Guten Morgen, Veronica! Du kennst die Strafe für sonntägliches Frühaufstehen!“, donnerte ihr Vater von oben.
„Ja, Dad. Der erste, der aufsteht, macht Frühstück.“
„Hurtig, in die Küche! Stell sicher, dass der Kaffee ordentlich dampft.“
„Sei nett zu mir. Ich werde dich einmal pflegen.“
„Ich habe nicht vor, mein Verfallsdatum zu überschreiten. Außerdem bin ich derjenige, der die Brötchen kaufen gehen wird. Soll ich dir nun etwas Besonderes mitbringen oder nicht?“
„Brezeln, falls du in diesem nordenglischen Kral welche findest. Ansonsten nehme ich, was du erlegst. Du bist der Jäger in der Familie.“
„Ganz recht. Und jetzt runter von der Treppe, damit ich rauskomme.“
„So gehen Sie mir nicht aus dem Haus, Herr Ziegler.“
Zach schaute an seinem zerknitterten Pyjama hinunter. „Was… ach herrje! Da fehlen nur noch die Lockenwickler!“
Veronica prustete. Als sie sich an ihm vorbei drückte, empfahl sie, den Gebrauch von Kamm und Rasiermesser zu erwägen. In Anspielung auf eine Passage aus Malcolm Evans‘ Tagebuch rief sie: „Socken, Mal.“ Ein Pantoffel flog haarscharf an ihr vorbei. Sie eilte kichernd in die Küche, knallte die Tür zu und drehte den Schlüssel um. Ein dumpfes Rumsen verkündete den Einschlag des zweiten Pantoffels. Dann ging der Haushalt seinen sonntagmorgendlichen Pflichten nach.